Gegneranalyse: VfB Stuttgart
Zum Freitagabend empfängt die SGD den VfB Stuttgart zu einem Pokalfight unter Flutlicht. Während Dynamo in einer etwas chaotischen Partie am ersten Spieltag der 3. Liga 3:4 schon gegen 1860 München verlor, ist der Pokal für die Schwaben der Saisonbeginn. Vor diesem Hintergrund habe ich mir zwei Spiele des VfB angesehen und schaue hier einmal genauer auf Dynamos kommenden Gegner.
Strategie, Denkweise, Grundordnung, Personal
Der VfB Stuttgart ist unter Trainer Pellegrino Matarazzo ein Team, das aktiven und offensiven Fußball spielt. Dabei dienen ein flexibles Pressing und mutiges Gegenpressing dazu, Dominanz zu kreieren und über zielstrebigen Ballbesitz Gefahr zu kreieren.
Matarazzo denkt Fußball ganzheitlich. Übergreifende Prinzipien prägen das Spiel des VfB primär. Mit dem so geschaffenen mannschaftlichen Verständnis ist es den Einzelspielern möglich, ihre individuellen Waffen mit einem hohen Grad an Freiheit und Kreativität einzubringen.
Damit geht eine grundlegende Flexibilität einher. Einerseits bezüglich der Grundordnung, die unter Matarazzo immer wieder zwischen 433, 4231, 352 und 343 pendelt. Die Zahlen sind egal, zumal sich sowieso nahezu jeder Spieler sehr weiträumig und flexibel auf dem Feld bewegt. Andererseits sind es genau jene Details, an denen Matarazzo immer wieder herumschraubt, um sich und das Team an dessen Bedürfnisse und den Gegner anzupassen. Mal schiebt der linke Halbverteidiger etwas höher, mal ein Stürmer etwas auf den Flügel – je nachdem, was gerade sinnvoll ist.
Muster im organisierten Ballbesitz
Grundsätzlich ist der organisierte Ballbesitz des VfB durch zwei Faktoren geprägt: Mut und Zielstrebigkeit. Mutig bevorzugen die Stuttgarter stets das flache Kombinationsspiel durchs Zentrum, anstatt primär das Flügelspiel oder lange Exitbälle zu fokussieren. Gleichzeitig liegt es dem VfB daran, so schnell wie möglich vor das gegnerische Tor zu kommen. Ziel ist, stets die progressivste Entscheidung zu treffen. Auch wenn ein Chipball auf Zielspieler Kalajdzic möglich und sinnvoll erscheint, ist man pragmatisch genug, diese zu wählen.
Um das Spiel mit flachem kontrollierten und damit proaktiven Spielaufbau zu starten, staffelt sich der VfB je nach Gegner flexibel und kommt daher letztlich bei verschiedenen Arten von 3er- und 4er-Ketten heraus. Am Ende positionieren sich die Spieler dabei schlicht in den Schnittstellen des Gegners. Sie bewegen sich aktiv in die Räume hinein und staffeln sich so versetzt, dass stets Passwinkel offen bleiben. Auch der Torhüter wird in die Rautenbildung einbezogen.
Auch in höheren Zonen arbeitet der VfB teils mit 4er- oder 3er-Kette, je nachdem wie hoch sich Vagnoman positioniert. Vermehrt, insbesondere gegen ein flaches 4141-Mittelfeldpressing wie es Dynamo unter Anfang spielt, lässt sich die Gesamtstruktur aber als eine Art 316 beschreiben.
Dabei fächern die Innenverteidiger sehr weit auf, wobei sie sich durchaus auch trauen, so weit aufzurücken wie es der Gegner anbietet. Mit dem sich stets flexiblen freilaufenden Sechser Endo bereiten sie die Angriffe zunächst über kontrollierte Zirkulation vor. Zentralverteidiger Anton verteilt die Bälle, während Ito gern direkte Chips in die Tiefe sucht. Der bewegliche und pressingresistente Endo verbindet ähnlich, kann sich jedoch auch häufig allein aus Drucksituationen lösen und aufdrehen.Währenddessen überladen die zahlreichen Angreifer die letzte Linie der verteidigenden Mannschaft und sind stets in gegenläufiger Bewegung, um Anspielstationen zu schaffen. Wenn der Ballführende mit Blick zum Tor keinen Druck bekommt, starten stets einige Angreifer tief, um entweder einen direkten Chipball zu erhalten oder zumindest Raum zwischen den Linien zu schaffen. Andere lassen sich in die Schnittstellen zwischen den Linien fallen, um flache Pässe ins Zentrum zu erhalten und selbst aufzudrehen.
Ist zunächst ein solcher Pass nicht möglich, lässt der VfB weiter zirkulieren und versucht, über die Tiefenläufe und kollektives Aufrücken den Gegner immer weiter nach hinten zu drücken. Gegen sehr tiefe passive Gegner kann beispielsweise Mavropanos auch andribbeln, um so den Block zu öffnen und dann hinein zu spielen.
Obwohl der VfB immer zuerst den Weg ins Zentrum sucht, muss er situativ auch mal auf die Flügel ausweichen. Dabei kommen die Flügelläufer kurz an der Auslinie entgegen und versuchen, aufzudrehen und das Spiel diagonal fortzusetzen. Während Vagnoman bei Dribblings noch etwas unsauber ist und das Spiel eher über einen einfachen Pass fortsetzt, kann dabei Silas seine 1v1-Stärke sehr gut ausspielen. Ist etwas Raum da – beispielsweise nach Verlagerungen – geht er sofort mit Dynamik auf den Gegner. In engen Situationen dribbelt er eher ins Zentrum, wofür sogar zunächst der Halbraum mit einem weiteren Tiefenlauf geöffnet wird. Das schafft neben der offensichtlichen Anspielstation Raum, den er zum eindribbeln und attackieren der Kette nutzen kann. In Situationen mit mehr Raum, beispielsweise nach einer Verlagerung, geht Silas auch gern noch geradliniger in Richtung Tor.Gelingt es dem Ballführenden, nach dem Aufdrehen oder durch ein Dribbling ins Zentrum frei auf die Kette des Gegners zuzugehen, ist diese Situation schon grundsätzlich nur noch schwer zu verteidigen. Der Blick zum Tor ist zudem wiederum ein Signal für Tiefenläufe. Mehrere Angreifer attackieren die Schnittstellen, was meist den Stürmer Tomas und die beiden Flügelläufer Silas und Vagnoman betrifft. Letztere positionieren sich schon zeitig an der letzten Linie. Interessanterweise gilt dabei nicht das klassische Prinzip der maximalen, sondern der minimalen Breite. Beide kleben nicht komplett an der Außenlinie, sondern staffeln sich nach dem Motto „Nur so breit wie möglich.“. Damit ziehen sie den gegnerischen Block immer noch (zumindest zu einem gewissen Maße auseinander), kommen aber schneller in die Tiefe und Richtung Tor.
Diese Tiefenläufe der Angreifer schaffen zum einen Anspielstationen hinter der Kette und drücken zum anderen die Abwehrkette weiter zurück. Der ballführende Stuttgarter soll mutig andribbeln und damit den gesamten Raum ausnutzen. Neben beispielsweise einem direkten Abschluss liegt im Anschluss der Fokus vor allem der Tiefenball in die Assist Zone. Damit sind die Halbräume am bzw. neben dem Strafraum gemeint, die über die Tiefenläufe (der Flügelläufer) angelaufen werden. Erreicht ein Steckpass diese Angreifer, haben sie zahlreiche Möglichkeiten den Ball flach in die Box zu legen. Diese wird durch den VfB mit einer brutalen Quantität an Spielern besetzt, indem die zahlreichen (auch ballfernen) Angreifer plus teils Sechser Endo gestaffelt und wuchtig einlaufen.
Insgesamt spielen vor allem das Aufdrehen im Zentrum und die zahlreichen Tiefenläufe bei jeder Möglichkeit im Spiel des VfB eine große Rolle; und sollten somit auch im Fokus der Spielvorbereitung der SGD liegen. Schwer zu verteidigen ist zudem, dass der VfB diese Abläufe keineswegs starr, sondern sehr flexibel, individuell und dynamisch interpretiert. Die Spieler rochieren ständig, kommen mal kurz, gehen mal tief. Es muss nur die gesamte Raumaufteilung stimmen.
Dabei ist auch schlicht zu konstatieren, dass der VfB zahlreiche super interessante Einzelspieler im Kader versammelt und so eine äußerst spannende Mischung aus Prinzipien als Leitplanken und Individuen als Interpreten geschaffen hat. Jeder Spieler kann dabei seine eigenen Waffen in die Umsetzung des Gesamtkonstrukts gewinnbringend einbringen und seine Rolle damit individuell interpretieren, ohne dass man etwas an der gesamten Effektivität verliert. Perea kann seine Schnelligkeit und Wucht als Tiefenläufer super ausspielen. Der bewegliche Führich dreht schnell auf und schickt seine Mitspieler mit einem brutalen rechten Fuß in die Schnittstellen. Kalajdzic bringt nicht nur seine Kopfballgefahr, sondern auch eine sehr gute Übersicht mit, mit der er sich klug fallen lassen und den Ball schnell weiterleiten kann. Und Tiago Tomas kann alles davon.
Diese individuellen Qualitäten ermöglichen dem VfB neben den idealen Abläufen auch noch weitere, etwas explizitere Angriffsmuster. Ein Kopfballtor Kalajdzic nach Flanke Sosa (der am Freitag aber vermutlich nicht starten wird) funktionierte im letzten halben Jahr nicht nur einmal. Insgesamt bieten insbesondere Kalajdzic als potenzieller Ankerspieler und der dribbel- und tempostarke Silas als jemand, der etwas aus nichts kreieren kann, weitere Lösungen im Übergangsspiel und dem letzten Drittel zum Aufbrechen eines tiefen Blocks.
Manchmal kann die allgemeine Flexibilität des Matarazzo-Fußballs aber auch Schattenseiten haben. Denn es braucht stets einen hohen Grad an Initiative seiner Spieler. In Phasen von Unsicherheit, bei Form- und Verletzungskrisen oder athletischen Problemen mag das nicht immer gegeben sein. Dann passiert es schnell, dass das Spiel des VfB statisch und einseitig und eben nicht mehr so zielstrebig und mutig ausgestaltet wird. Im Testspiel gegen Brentford fehlte es dem VfB beispielsweise in einigen kurzen Phasen etwas an Freilaufaktivität und Dynamik. Es entstand ein eher passives 442, das viel wirkungslos zirkulierte, selten andribbelte und nur über direkte Chipbälle an die (sich immerhin klug bewegende) letzte Linie Richtung gegnerischen Tor kam.
Diese Kleinigkeiten sind letztlich entscheidend für die Effektivität der Stuttgarter Spielweise. Manchmal klappt es nicht ideal. Matarazzo ist aber zumindest so flexibel, dass er über kleine Anpassungen an seinen Schiebereglern seine Mannschaft so einstellt, dass sie ihre Prinzipien möglichst gewinnbringend aufs Feld bringen kann.
Muster im defensiven Umschalten
Entsprechend eines ganzheitlichen Fußballs mit Dominanzanspruch legt Matarazzo einen bedeutenden Fokus auf das defensive Umschalten. Auch in dieser Phase sind Mut und eine offensive Denkweise seine ersten Prämissen.
Verliert der VfB den Ball, setzt man sofort aggressiv nach. Der Ballführende wird im Sprint angelaufen, während seine Anspielstationen in erster Reihe ebenso aggressiv zugelaufen werden. Dabei tut die grundsätzlich enge Gesamtstruktur gut, mit den hohen Halbverteidigern und einem laufstarken Sechser wird viel und weiträumig nach vorn verteidigt und so schnell Druck erzeugt.
In zweiter Reihe ist weiterhin die ballferne Absicherung entscheidend, wofür der VfB strukturell ebenso alle Voraussetzungen hat. Gleichzeitig birgt diese Herangehensweise auch gewisse Risiken, wenn die Ausführung ballnah und ballfern nicht perfekt stimmt. Gegen vertikale 2-Kontakt-Umschaltteams wie Brentford, die sich beweglich und im hohen Tempo auf die ballferne Seite kombinieren und dann kollektiv nachrücken, lief das in der Vorbereitung eher semieffektiv. Wenngleich ich eine solch in guter Ausführung sehr dominante Herangehensweise im Grundsatz begrüße, kann diese Phase auch für kleine Gegner eine Möglichkeit sein, gegen den VfB Nadelstiche zu sitzen – insbesondere, wenn dessen personelle Besetzung ggf. nicht ideal ist und so die Einzelspieler bspw. situativ nicht das perfekte Timing haben.
Muster im offensiven Umschalten
Das Umschalten nach Ballgewinn zeigt beim VfB wenig Veränderungen im Vergleich zu Phasen des organisierten Ballbesitz. Schließlich soll letzteres auch so zielstrebig wie möglich ausgeführt werden. Wiederum hat Matarazzo hier viele Spieler, die sich individuell und gruppenbezogen aus dem Gegenpressing lösen und/ oder in die Tiefe gehen können. Dabei legt er wiederum den Fokus darauf, mit Mut die progressivste Lösung zu suchen. Zahlreiche Tiefenläufe der schnellen Angreifer bieten viele Optionen, während der Ballführende ebenso für weiträumige ballschleppende Dribblings ermutigt wird. Für beides hat der VfB zudem passende Spieler, die weitgehend über eine kluge Entscheidungsfindung verfügen.
In besonderem Fokus steht dabei Silas, der als brutal schneller Tiefenläufer und fintierender 1v1-Dribbler jegliche Lösung für ein erfolgreiches Konterspiel mitbringt. Nach Ballgewinn wird häufig er im Speziellen gesucht, beispielsweise auch wenn der Torwart schnell einen Gegenangriff einzuleiten versucht.
Muster im Pressing
Auch gegen den Ball zeichnet sich das Spiel des VfB wiederum durch mutige und offensive Ideen aus. Die Spieler werden ermutigt, auch mal riskant weiträumig herauszurücken. Gleichzeitig bleibt Matarazzo dabei strukturell weiterhin flexibel, sodass das Pressing eher als Mittel zum Zweck für Dominanz und Ballbesitzphasen angesehen werden kann. Je nach Gegner und aktuellen Kontext passt der VfB also Pressingabläufe und -höhen an.
Im Angriffspressing, das man in Situationen von Sicherheit stets bevorzugt, versucht der VfB grundsätzlich, den Gegner auf eine Seite zu lenken und diese Pässe sofort zu attackieren. Gegen eine Viererkette tat man das aus dem 352 zuletzt, indem zunächst der Pass auf den Innenverteidiger zugelassen wurde und dieser nach außen gelenkt wurde. Dort wurden alle Optionen inklusive Torwart durch den ballfernen Stürmer durch aggressives Draufschieben geschlossen und so meist ein langer Ball erzwungen.
Die hoch stehenden drei Verteidiger und der alleinige ausbalancierende Sechser stehen dann teils in Gleichzahl und könnten theoretisch aufgrund der Gleichzahl in letzter Linie über kluges enges Spiel der gegnerischen Angreifer ausgespielt werden. Doch dafür muss gegen die brutale Qualität von Spielern wie Endo und Mavropanos neben einem präzisen langen Ball unter Druck noch viele weitere Komponenten zusammenkommen. Zumal das ballferne Nachstoßen insofern riskant wird, als dass der ballferne Flügelläufer (Vagnoman oder v. a. Silas) zwar ausbalancierend einrückt, aber gleichzeitig auch immer wieder über eine höchstmögliche Grundstaffelung auf einen Konter zockt.In Phasen tieferen Mittelfeldpressings switcht der VfB flexibel zwischen 352 und 442, wobei wiederum der Gegner auf außen gelenkt und meist der Pass auf den Außenverteidiger attackiert werden soll. Das ist auf dem Papier ebenso schlüssig wie das Angriffspressing, wenngleich in der Praxis jene Flexibilität höchste Aufmerksamkeit und Abstimmung beim gemeinsamen Sichern verlangt. Insbesondere auf der linken Seite, wo Silas‘ Höhe die Grundstruktur immer wieder ändern kann, kam es dabei zuletzt vermehrt zu sich öffnenden Räumen in den Schnittstellen zwischen Innenverteidiger Anton, Halbverteidiger Ito und Flügelläufer Silas. (Dass es Sechser Endo trotzdem sehr häufig schafft, auch noch diese Räume zuzulaufen, zeugt von seiner riesigen Qualität.) Insgesamt ist der VfB in tieferen Pressingphasen jedoch nicht das stabilste, weil kompakteste Team. Dies bietet geduldigem Ballbesitz mit sauberem Positionsspiel einige Möglichkeiten.
Fazit
Letztlich stellt der VfB ein Team dar, dass allumfassend guten, weil mutigen, offensiven und kompletten Fußball spielt. Dabei findet Matarazzo eine einzigartige Mischung aus klaren allgemein-gültigen Prinzipien und einem hohen Grad an Flexibilität, der Einzelspieler ideal einbinden kann. Gleichzeitig benötigt dies auch passende Umstände für höchstmögliche Qualität, was zumindest nach der Personallage beim VfB aktuell nicht komplett der Fall zu sein scheint. Insofern besteht für Dynamo durchaus die Chance, über die schon angedeuteten starken Offensivabläufe des Anfang-Fußballs einige Tormöglichkeiten eigeninitiativ zu kreieren. Für ein gutes Spiel müssen aber auch alle anderen Spielphasen stimmen.
PS: Danke fürs Lesen! Das ist meine erste Gegneranalyse. So richtig zufrieden bin ich mit dem Gesamtkonstrukt noch nicht, ich werde mich da noch reinfuchsen und auch etwas experimentieren. Lasst mir daher gern Feedback bezüglich Inhalt, Fokus, Ausmaß und Form da.